Porträts der Liebe: Hadji Bektasch Weli

Am 16.01.2020 fand die zweite Veranstaltung der Reihe “Islam kompakt – Muslime erzählen” statt, in der dieses Jahr Porträts der Liebe vorgestellt werden – Persönlichkeiten, die die spirituelle Dimension des Islams geprägt haben. An diesem Abend ging es um Hādji Bektāsch Welī.

Referent an dem Abend war Herr Dr. Kardaş. Er ist Jurist, Chefredakteur der Zeitschrift Fontäne, lehrt an der Universität Potsdam und ist neben weiteren Publikationen auch Herausgeber des Buches „Aleviten und Bektaschis – Leben, Regeln und Werke von Hacı Bektaş Veli“

Dr. Kardaş erzählte im ersten Teil seines Vortrags über das Leben und Wirken des Ordenbegründers Hādji Bektāsch Welī und ging im zweiten Teil auf die wichtigsten Grundlagen der Bektaschi-Lehre ein.

Hādji Bektāsch Welī

Hādji Bektāsch Welī ist im 13. Jahrhundert in Nischapur geboren und ist somit ein Zeitgenosse Mewlānā Dj. Rūmīs. Sein Verständnis vom Islam war stark geprägt von seinen Lehrmeistern Ahmed Yesevi und Aslan Baba. Beide vertraten ein Islamverständnis, das in mittelasiatischen Völkern, vor allem den Turkvölkern, zu sehen ist. Es geht insbesondere um die „innere Schönheit“ und „ethischen Grundlagen“, so Dr. Kardaş. Es herrscht ein Verständnis, das sich stark auf Gottesliebe und Selbsterkenntnis  bezieht. Deshalb ist Ahmed Yesevi in diesem Sinne eine wichtige Figur. Viele seiner Schüler sind als Missionare umhergezogen, unter anderem nach Anatolien. In Legendenschriften sei zu lesen, dass  Hādji Bektāsch in dieser Tradition mit seinem Bruder Mentesch nach Anatolien gekommen sei. Eine andere Erklärung für ihre Auswanderung nach Anatolien seien die politischen und militärischen Unruhen.

Im 13. Jahrhundert gab es eine Zuwanderung nach Anatolien aus den mittelasiatischen Regionen aufgrund des Mongolensturmes. Dies war zudem die Zeit, in der das abbasidische Kalifat mit Zentrum in Bagdad etwa 1258 n. Chr. niederging. Die Menschen sind von den Mongolen aus Zentralasien in Richtung Süden und Westen verdrängt worden. Die Mongolen zerstörten das islamische bzw. arabische Erbe. Für diejenigen, die ihr Leben retten wollten, war es ein Anlass, nach Anatolien zu fliehen. Dort war eine junge Dynastie an der Macht – die anatolischen Seldschuken. So kamen zahlreiche nomadische Völker in die Steppen und Gebirge Anatoliens. Die Botschaft Hādji Bektāschs ist insbesondere bei diesen Menschen gut angekommen, die neu zum Islam gefunden haben. Denn: 

Dr. Kardaş bezeichnete das Bektaschitum als eine Tradition in der islamischen Mystik. Die zentralasiatischen Völker, die nomadisch geprägt waren, hatten schamanistische Hintergründe – das heißt sie haben sowohl an einen Gott geglaubt, als auch an die Schamanen. Der Schamane war der Vermittler zwischen dem Volk und Gott. Die islamische Mystik habe dazu gepasst: In der islamische Mystik gibt es einen Meister, der als Vermittler zwischen Gott und den Studierenden fungiert. So war dies ein fruchtbarer Boden für Ahmed Yesevi und Hādji Bektāsch Welī, die ihr Anliegen durch ihre Schriften übermitteln konnten. 

Dr. Kardaş bezeichnet das Bektaschitum als eine eigene Lehre. Untersuche man die Bektaschiliteratur, erkenne man, wie reich diese Tradition ist. Leider sei sie mittlerweile vom Aussterben bedroht. An dieser Stelle wies der Referent auf das Bektaschi-Zentrum in Albanien als ein wichtiges Institut in diesem Kontext hin.

Bektaschitum

Als nächstes ging Dr. Kardaş auf die strukturelle Beschaffenheit eines Sufi-Ordens ein. Das Bektaschitum ist ein Sufi-Orden und ein Bektaschi ist ein Ordensmitglied. Sufi-Orden haben Tekken, in denen die Studierenden vom Lehrmeister unterrichtet werden. Dabei gibt es eine zentrale Tekke und weitere Zweige dieser Tekke. Dr. Kardaş bezeichnete die unterschiedliche Tekken eines Sufi-Ordens vereinfacht als „Filialen“ der ursprünglichen Tekke, die von „Boten“ des Lehrmeisters geführt werden. Als Lehrmeister des Bektaschi-Ordens hatte auch Hādji Bektāsch zahlreiche Boten in Anatolien.

Durch diesen Zustrom kamen Menschen aus jeder Gesellschaftsschicht nach Anatolien – so auch bedeutende Gelehrte und Persönlichkeiten. Zu ihnen gehören Hādji Bektāsch Welī, Mewlānā Dj. Rūmī und – ein Schüler der beiden, so Dr. Kardaş – Yunus Emre. Der Referent merkte an dieser Stelle an, dass Rūmī und Yunus Emre weltweit bekannt sind und Hādji Bektāsch etwas im Hintergrund geblieben ist, dem er mit seiner Publikation „Der Lehrmeister der Aleviten & Bektaschis“ mit original Quellen entgegenwirken wollte. 

Ikrar

Der Bektaschi-Orden sei ein Orden sui generis. Es gebe Rituale, wie man in den Orden eintritt. Ein Ritual für den Austritt hingegen gebe es nicht, weil es einen Austritt aus dem Orden nicht gebe. Ein Austritt würde eine Abwendung von Gott bedeuten. Deswegen überlegt sich ein Bektaschi lange und gründlich, ob er dem Orden beitreten möchte. Die Voraussetzungen seien sehr schwierig: Bektaschi-Geistliche leben im Zölibat. Als Talip (Bezeichnung für Anfänger) könne man im Konvent leben oder eine Familie gründen. Die Zeremonie zum Eintritt in den Orden als Bektaschi-Geistlicher wird Ikrar (Gelübde) genannt. Solch ein Ikrar, das die angehenden Bektaschis ablegen müssen, kann beispielsweise wie folgt aussehen:

Gläubige sind wir seit dem Kâlû Belâ,

Auf die Einheit Gottes haben wir geschworen

Und uns diesem Weg verschrieben.

Unser Prophet ist Ahmed, der Auserwählte.

Wir sind Trunkene von der Unendlichkeit,

Nicht an einer Hand abzuzählen.

Niemandem erschließt sich unser Wesen,

Der nur von außen auf uns schaut.

Zwölf Imame und zwölf Orden,

Allen sind wir verpflichtet.

Dreier, Fünfer und Siebener,

Mit dem Licht des Propheten

Und dem Segen von Imam Ali.

Unser Patron ist Hadji Bektasch Weli

Lasst uns für sein Wohl ein „Hü“ sprechen.

Sechs Grundsätze des Bektaschitums

Was macht die Lehre des Bektaschitums aus? Prägend und kennzeichnend für das Bektaschitum sind folgende Grundsätze:

 

4 Pforten und 40 Toren (4 kapı 40 makam)

Das Gelübde beim Eintritt in den Orden (Ikrar)

Freundschaft und Distanz (Tevella – Teberra)

Selbsterkenntnis (Kendini bilmek)

Zu Erde werden (Toprak olmak)

Alle (72) Völker mit einem Blick erfassen (72 millete bir gözle bakmak)

Dr. Kardaş erzählte an dieser Stelle von der Schwierigkeit der Übersetzung der Begriffe. Es gebe keine Pendants für diese im Deutschen, weshalb er im Rahmen der Übersetzungsarbeit des Buches kreativ werden musste.

Der erste Grundsatz „4 Pforten und 40 Toren“ stamme von Ahmed Yesevi. Im Bektaschitum gibt es die vier Tore „Scheriat, Tarikat, Marifet, Hakikat“ – vier wichtige Pforten, die zu Gott bzw. zur Gotteserkenntnis führen. Außerdem gibt es 40 Rangstufen, d.h. jede Pforte wird mit jeweils 10 Rangstufen verzeichnet. Diese werden detailliert in Bektaschi-Werken behandelt. 

Als zweiten Grundsatz nannte Dr. Kardaş das Ikrar, was er zuvor näher erläutert hatte.

Der dritte Grundsatz sei ursprünglich ein koranischer Begriff und gewinne im Bektaschitum eine neue Ebene in der Bedeutung: Der Bektaschi zeigt eine Freundschaft zur Familie des Propheten – also Ali, Fatima, Hasan, Hüseyin –  und hält eine Distanz gegenüber diejenigen, die Feindschaft gegenüber dem Hause des Propheten zeigen. Tevella bedeutet, man nimmt Imam Ali und das Hause des Propheten als Freund und Wegweiser. Teberra, Distanz, wiederum bedeutet: Denjenigen, der gegenüber dem Hause des Propheten feindselig sind, soll eine gewisse seelische Distanz gehalten werden. An dieser Stelle unterstreicht Dr. Kardaş die Bedeutung der seelischen Distanz. Teberra bedeute nicht, dass die Bektaschis nicht mit Anderen gesellschaftlich interagieren, nicht mit ihnen essen, usw. 

Als nächstes erläuterte Dr. Kardaş den Grundsatz der Selbsterkenntnis, der einen der wichtigsten Grundsätze darstellt. Bektaschis gehen von der Behauptung aus, dass, wenn ein Mensch sich selbst erkennt, er auch Gott erkennt. Gott ist also nicht unbedingt draußen zu suchen, man kann ihn auch in seinem Inneren suchen und finden. Denn: Gott  ist dem Menschen „näher als seine Halsschlagader“ (Sure Qaf 50:16). Erforscht der Mensch seine Seele, sein Herz, sein Verhalten und seine Emotionen, dann kann er die Gotteserkenntnis erlangen, so Dr. Kardaş.

Den vierten Grundsatz „Toprak olmak“ übersetzt Kardaş mit „zu Erde werden“. Auch dieser Grundsatz geht auf Imam Ali zurück. Dieser wurde vom Propheten (Friede und Segen seien mit ihm) „Ebu Turab“, „Vater der Erde“, genannt. Das bezeichnet jemanden, der so bescheiden ist wie die Erde und ebenso wie die Erde zahlreiche Schönheiten hervorbringt. Um solche Schönheiten hervorzubringen, müsse man die Bescheidenheit verinnerlicht haben. 

Der letzte Grundsatz verdeutlicht die Gleichheit der Menschen.  Der Bektaschi soll allen Menschen unabhängig von Status, Weltanschauung und Herkunft auf Augenhöhe begegnen und keinen Unterschied zwischen ihnen machen. 

Im Laufe der Fragerunde zitierte und erläuterte Dr. Kardaş einen Zweizeiler von Yunus Emre, der sich auf den Grundsatz der Selbsterkenntnis bezieht: „Beni bende demem bende değilim/Bir ben vardır bende benden içeri.“. Es geht um die Erkenntnis, dass der Mensch während der Reise in sich selbst etwas erkennt, dass nicht von ihm sein kann, sondern göttlicher Abstammung sein muss. Aus diesem Grund respektieren Bektaschis jeden Menschen als Widerspiegelung Gottes. „Der Mensch ist ein Spiegel und mit seinem Spiegel im Herzen spiegelt er Gottes Schönheit, Gottes Wissen, Gottes Gnade und Gottes Barmherzigkeit wider.“, waren die Abschlussworte von Dr. Kardas.

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