Glaubenspraxis im Islam: „Kein Gott außer Gott: die sufische Perspektive“

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Kein Gott außer Gott: die sufische Perspektive

Im Rahmen unseres Projektes „Islam kompakt – Muslim:innen erzählen“ haben wir am 09.11.2023 zum Gesprächsabend „Kein Gott außer Gott: die sufische Perspektive“ mit Herrn Dr. Raid Al-Daghistani eingeladen. In dieser Reihe wurden die fünf Säulen des Islams thematisiert. Diese Veranstaltung war die letzte in dieser Reihe.

Dr. Raid Al-Daghistani ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) der Universität Münster. Er ist auch als externer Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät (TEOF) der Universität Ljubljana in Slowenien und als Lehrbeauftragter am Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik (IITR) der Universität Innsbruck tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören islamische Mystik (Sufismus), mystische Theologie, islamische Ethik und religiöse Anthropologie. Dr. Al-Daghistani ist Autor von fünf Monographien und zahlreichen Aufsätzen und Publikationen in deutscher, englischer und slowenischer Sprache. Er hat unter anderem das bekannte Werk „Die Kultur der Ambiguität“ von Thomas Bauer ins Slowenische übersetzt. Auch empfehlenswert ist die Lektüre: „Falsafa – Einführung in die klassische arabisch-islamische Philosophie“.

Al-Daghistani hatte seinen Vortrag in vier Abschnitte geteilt. Den Einstieg machte er mit dem Thema „Islam als Eingottglaube und Hingabe“, in dem er die Begriffe Islam, Fitra und Tewhid erklärte. Im nächsten Teil brachte er das koranische Gottesbild näher. Als drittes machte er eine Einführung in die Einheit Gottes in der islamischen Philosophie (Falsafa) und Theologie (Kalam), wo er Meinungen von unterschiedlichen Theologen und Philosophen anführte. In seinem letzten, durchaus auch längeren Teil führte Al-Daghistani das Thema des Einheitsbekenntnisses aus der Perspektive der islamischen Mystik aus.

Der Islam wird als Hingabe zu einem einzigen Gott im Sinne der alleinwirklichen Wirklichkeit verstanden. Der Begriff „Islam“ bedeutet die völlige und willentliche Selbstunterwerfung gegenüber Gott, wie auch im Koran betont wird (bspw. in Sure 2:112). Der Begriff „Fitra“ bezeichnet die ursprüngliche spirituelle Veranlagung des Menschen zum Glauben. Diese angeborene spirituelle Dimension des Menschen ermöglicht eine präreflexive Annahme der göttlichen Einheit, was die Verbindung zwischen Gott und dem Menschen möglich macht. Die Fitra kann als eine natürliche, von Gott gegebene Anlage des Menschen verstanden werden und als ein religiöses a priori, „als ein Sinn und Geschmack für das Unendliche“, wie Friedrich Schleiermacher es beschreibt.

Die wahre Hingabe bedeutet, den tieferen Sinn der Offenbarungswahrheit zu erkennen und zu verinnerlichen. Tewhid, der Glaube an Gottes Einheit, ist das erste und wichtigste Grundprinzip der islamischen Religion. Tewhid umfasst das Bekenntnis zur Einheit Gottes und verlangt, sein Handeln entsprechend Gottes Willen auszurichten.
Der Sufi-Gelehrte Al-Hudschwiri betont, dass die wahre Einheit sowohl in der Anerkennung der Einheit als auch in einer vollkommenen Erkenntnis davon besteht. Er legt dar, dass Gott absolut eins ist, seine Einheit nicht bloß eine numerische Bedeutung hat, er unendlich ist und über Raum und Zeit hinausgeht, er vollkommen ist, sein Wesen und seine Attribute unveränderlich sind und dass alles von seiner Existenz und Allmacht abhängig ist. Diese wahre Einheit erfordert ein grundlegendes Wissen über Gott und seine Wesenheit, das unerlässlich für das Bekenntnis zur göttlichen Einheit ist.

Schaut man sich das koranische Verständnis von Tewhid an, sieht man – vor allem direkt im Glaubensbekenntnis: Es beginnt mit der Negation, der bewussten Verneinung aller Götzen außer dem einen Gott. Die Negation im Glauben ist ein Akt der Überwindung aller Götzen, sowohl innerlich als auch äußerlich. Al-Daghistani zitiert an dieser Stelle Dr. Milad Karimi, der sagt: „Das Ziel der Suche nach Gott ist also der Übergang von der Einsicht, dass es keinen Gott gibt, zur Wahrheit des Glaubens, die im islamischen Glaubenszeugnis (šahāda) mit den Worten fortgesetzt wird: „außer dem einen Gott“.“

Tewhid, die Einheit Gottes, ist das zentrale Konzept der islamischen Religion, das die absolute Einheit und Einzigartigkeit Gottes beschreibt. Der Koran betont Gottes Einheit stark, die nicht nur arithmetisch-numerisch, sondern metaphysisch ist. Gottes Einheit gründet auf seiner Allmacht und Absolutheit, die ihn als einzigartig und absolut macht.

Neben Tewhid sind „tenzih“ und „teschbih“ wichtig – die Transzendenz und Immanenz Gottes. Tenzih bedeutet, dass es keine angemessene Analogie oder Relation zwischen dem endlichen Wesen und der unendlichen Quelle aller Dinge gibt. Der Begriff „teschbih“ in der islamischen Theologie betont Gottes Nähe und Unmittelbarkeit zu den Menschen. Gott ist dem Menschen „näher als seine Halsschlagader“ (Sure Qaf 50:16) und „mit uns, wo immer wir sind“ (Sure Nisa 4:57). Er ist allgegenwärtig und allumfassend (Sure Nisa 4:126).

Die schönen göttlichen Namen (Esma Al-Husna) stellen die Aspekte von Gottes Wesen dar und sind Relationen zwischen seinem unergründlichen Wesen und Manifestationen. Diese Namen referieren auf die göttliche Essenz und sind weder davon vollkommen verschieden noch unabhängig.

Damit kommt Al-Daghistani zum dritten Abschnitt seines Vortrags, in dem er unterschiedliche Herangehensweise von Philosophen und Theologen darstellt. In der Sicht von Al-Kindi, bekannt als der erste islamische Philosoph, ist alles Sein auf den einen Gott als die ultimative Quelle des Seins zurückzuführen. Ähnlich argumentiert Ibn Sina, auch als Avicenna bekannt. Seine Seinslehre unterscheidet zwischen dem möglichen Seienden (el-Mumkin el-Wudjud) und dem notwendigen Seienden (el-Wadjib el-Wudjud). Das mögliche Seiende ist verursacht, während das notwendige Seiende keine Ursache hat und aus sich selbst heraus existiert. Dieses notwendige Sein (el-Wadjib el-Wudjud) ist für Ibn Sina eine ontologische Bezeichnung für Gott.

In der Theologie unterscheidet man zwischen dem Wesen Gottes und seinen Attributen. Es herrscht die Auffassung, dass die Essenz bzw. Gottheit Gottes nicht erkannt werden kann. Er kann aber durch seine Attribute und Eigenschaften rational aufgefasst und konzeptuell gedacht werden. So wird zwischen Wesensattributen und Tatattributen Gottes unterschieden. Die Tatattribute Gottes treten erst mit der Schöpfung in die Zeit ein, während die Wesensattribute immer unabdingbar für Gott sind.

Zuletzt kommt Al-Daghistani nun zum Tewhid-Verständnis im Sufismus. Die Sufis streben nach einer unmittelbaren, schmackhaften Erfahrung Gottes, nicht nur nach konzeptuellen Verständnis. Die mystische Erfahrung der Einheit Gottes geht über konzeptuelles Begreifen hinaus und beinhaltet Erkenntnis, Enthüllung und geistige Schau. Das Ziel ist die „fana fillah“. Die Erfahrung des „fana fillah“ beschreibt einen Zustand der Überwältigung durch Gott, in dem der Mensch den Bezug zu sich selbst verliert und in der Gotteserfahrung aufgeht. „Obwohl es negativ klingen mag, wird dies von den Sufis als höchste Erfahrung der Befreiung von Konzepten und Vorstellungen betrachtet“, führt Al-Daghistani aus.

Es werde oft als Vorwurf der Sufis gegenüber Theologen angesehen, dass sie nur nach Spuren suchen – „sie seien die Spurensucher, während die Sufis quasi ankommen“. Die Aussagen der Sufis sind jedoch nur vor dem Hintergrund der grundlegenden Differenzierung zwischen einer theoretischen und einer erfahrungsbezogenen Gotteseinheit zu betrachten.

Die sufische Perspektive setzt neben einer konzeptuellen Begründung der göttlichen Einheit vor allem auf die metaphysische Erfahrung derselben. Die Sufis streben nicht nur nach dem verinnerlichten Bekenntnis des Tewhid, sondern in Tewhid einzutauchen durch das Entwerden des eigenen Selbst in Gott.

Die mystische Vereinigung in Gott ist eine Rückkehr des Menschen in die Einheit des Seins, in den Zustand der Untrennbarkeit des Seelenkerns des Menschen vom göttlichen Ursprung. Das ist jedoch metaphysisch zu verstehen, nicht ontologisch – Mensch bleibt Mensch, Gott bleibt Gott. Bildlich und schön ist auch die Aussage vom Mystiker al-Ǧunayd, der die Erfahrung der Vereinigung mit Gott als „die gänzliche Versenkung des eigenen Ich in das unendliche Meer der göttlichen Einheit“ beschreibt.
Al-Daghistani versucht die Erfahrung des „Entwerden in etwas“ begreiflicher zu machen, indem er das mit profanen Aktivitäten vergleicht. Wenn Sportler eins sind mit dem, was sie tun, nehmen sie ihr Umfeld kaum wahr. Und beim Lesen eines spannenden Buches verliert man sich im Buch und merkt nicht, wie man liest und die Seiten umschlägt, sondern ist versunken in der Geschichte. Die Erfahrung des fena fillahs könne man damit zwar nicht vergleichen, jedoch könne man dadurch erahnen, wie man sich das vorstellen könnte.

Dem Sufi geht es nicht nur um die Bestätigung der Einheit Gottes, sondern um das innere Erlebnis der göttlichen Einheit. Nicht nur um das äußere Bekenntnis, sondern vielmehr um die innere Verwirklichung der Gotteseinheit im Sinne der sufischen Einheit mit Gott. Abschließend stellte Al-Daghistani die Gotteserfahrung einiger Sufis anhand mehrerer Zitate vor und ließ diese am Ende seines Vortrags auf die Gäste wirken. Es folgte eine spannende und fruchtbare Fragerunde.

Wir bedanken uns herzlichst für den wunderbaren Vortrag, genauso wie das rege Interesse der Teilnehmenden!

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Referent

Dr. Raid Al-Daghistani (geb. 1983) ist Postdoc und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) der Universität Münster.

Er ist auch als externer Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät (TEOF) der Universität Ljubljana und als Lehrbeauftragter am Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik (IITR) der Universität Innsbruck tätig. Zu seinen hauptsächlichen Forschungsschwerpunkten gehören islamische Mystik (Sufismus), mystische Theologie, islamische Ethik und religiöse Anthropologie. Dr. Al-Daghistani ist Autor von fünf Monografien und zahlreichen Aufsätzen in deutscher, englischer und slowenischer Sprache.

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