Die Fastenzeit der Muslim:innen, der Monat Ramadan, ist eine gute Gelegenheit, auch das Fasten im Judentum und im Christentum näher kennenzulernen. Der freiwillige Verzicht auf materielle wie immaterielle Dinge, um Gott näherzukommen, ist nicht nur dem Islam bekannt. Das Fasten bildet tatsächlich eine Schnittstelle der drei abrahamitischen Religionen. Zum einen weisen Gemeinsamkeiten in den gottesdienstlichen Handlungen von Jüd:innen, Christ:innen und Muslim:innen auf einen gemeinsamen Ursprung hin. Zum anderen ermöglicht die Kenntnis verschiedener Erscheinungsformen des Fastens einen verständnisvolleren und respektvolleren Umgang miteinander. Neben Christentum, Judentum und Islam praktizieren viele andere Religionen das Fasten. Sie halten entweder Fastenzeiten ein oder fordern ein Leben in Askese.
Trotz einiger Abweichungen in der Praxis stimmen die abrahamitischen Religionen in ihrem Anliegen überein: Fasten soll Änderungen in der Haltung der Menschen gegenüber Gott, gegenüber der Natur und gegenüber dem sozialen Umfeld hervorrufen und sie in ihren Beziehungen zu diesen bestärken. Gläubige sollen den in der Fastenzeit erreichten Zustand nicht zur Ausnahme machen, sondern danach streben, die gewonnene Haltung zu bewahren. Fasten ist somit mehr als der Verzicht auf dieses oder jenes. Fasten ist ein spiritueller Weg.
Fasten als ein Weg in die innere Freiheit, als ein Ausdruck der Umkehr, Reue und Buße, als eine Zeit der Besinnung und Reflexion, als ein Zeichen der Dankbarkeit, als eine subtile Kritik unserer gewöhnlichen Haltung zum Leben – dies sind einige gemeinsame Motive der abrahamitischen Religionen. Im Folgenden wollen wir auf einige Fastenpraktiken eingehen.
Jüdisches Fasten
Im Judentum ist das Fasten ein Zeichen der Reue für die Übertretung eines göttlichen Gebots. Jüd:innen bereuen ihre Sünden, indem sie fasten. Sie tun Buße für vergangene Missetaten und hoffen auf Reinigung. Zudem ist das Fasten ein Trauerzeichen. Im Fasten erinnern sie sich an tragische Vorfälle der eigenen Geschichte.
Der wichtigste und in der Tora verankerte Fasttag ist Yom Kippur, der Tag der Versöhnung der Menschen mit Gott und untereinander. Die Stelle aus der Heiligen Schrift lautet
folgendermaßen:
Der Herr sprach zu Mose: Am zehnten Tag dieses siebten Monats ist der Versöhnungstag. Da sollt ihr heilige Versammlung halten. Ihr sollt euch Enthaltung auferlegen und dem Herrn ein Feueropfer darbringen. An ebendiesem Tag dürft ihr keinerlei Arbeit verrichten, denn es ist der Versöhnungstag, an dem man euch vor dem Herrn, eurem Gott, entsühnt. Denn jede Person, die sich an diesem Tag nicht Enthaltung auferlegt, soll aus ihren Stammesgenossen ausgemerzt werden. Wer an diesem Tag irgendeine Arbeit verrichtet, den werde ich aus der Mitte seines Volkes austilgen. Ihr dürft keinerlei Arbeit tun. Das gelte bei euch als feste Regel von Generation zu Generation überall, wo ihr wohnt. Dieser Tag ist für euch ein vollständiger Ruhetag. Ihr sollt euch Enthaltung auferlegen. Vom Abend des neunten Tags in diesem Monat bis zum folgenden Abend sollt ihr Ruhetag halten.
Levitikus 23, 26–32
Im Judentum gilt das Fasten für gläubige Mädchen ab zwölf und für gläubige Jungen ab dreizehn Jahren. Kranke und Schwangere können nach eigener Einschätzung fasten. Die strengste Version des Fastens dauert 25 Stunden, beginnend mit dem Sonnenuntergang des Vortages bis zum Sonnenuntergang des Folgetages. Beim Fasten wird auf Essen, Trinken, Rauchen, Geschlechtsverkehr, Waschen und Einsalben, Arbeiten und das Tragen von Leder verzichtet. Diese Fastenregeln gelten an Yom Kippur und Assara beTevet. An den restlichen Fasttagen wird nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gefastet und außerdem auf Nebenbräuche wie bspw. das Unterlassen von Körperpflege verzichtet.
Neben Yom Kippur gibt es in Verbindung mit historischen Ereignissen weitere Fastentage, die auch als Trauertage bezeichnet werden: Assara beTevet, Shiw ́a ́Asar beTamus, Tischa BeAw und der Todestag von Gedalja. An Assara beTevet gedenken Jüd:innen der Belagerung Jerusalems durch den König von Babel, an Shiw ́a ́Asar beTamus dem Beginn der ersten Zerstörung des Tempels sowie der zweiten Zerstörung. An Tischa BeAw, dem zweitwichtigsten Fastentag nach Yom Kippur, gedenken sie ebenfalls der ersten und zweiten Tempelzerstörung und des Todestages von Gedaljia, dem offiziellen jüdischen Statthalter der verbliebenen jüdischen Bevölkerung nach der ersten Tempelzerstörung, an seine Bemühungen um den Wiederaufbau des jüdischen Lebens.
Außer den vier Trauertagen gibt es noch das Esther-Fasten (Ta ́anit-Esther), das an das öffentliche Fasten in Notsituationen erinnert, und das Fasten der erstgeborenen Söhne vor Pessach als ein Zeichen der Dankbarkeit gegenüber Gott, der die Erstgeborenen bei der zehnten Plage in Ägypten vor dem Tod bewahrte. Ultraorthodoxe Jüd:innen fasten an Montagen und Donnerstagen, da Mose an einem Montag auf den Berg Sinai stieg und an einem Donnerstag wieder zurückkam. Darüber hinaus steht es jedem Gläubigen frei, außerhalb der oben aufgezählten Tage zu fasten, so oft man möchte und sofern ein intensives Fasten die Gesundheit und die sozialen Aufgaben nicht gefährdet.
Christliches Fasten
Im Christentum treffen wir ebenfalls auf das Fasten. Jesus hielt sich an die Fastenpraktiken des Judentums und gab seinen Jüngern folgende Empfehlung: „Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler! Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Du aber salbe dein Haar, wenn du fastest, und wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken dass du fastest, sondern nur dein Vater, der auch das Verborgene sieht; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird dir vergelten.“ (Matthäus 6,16–18). Fasten soll die Menschen körperlich wie seelisch reinigen und die Schönheit des Leibes und der Seele zum Vorschein bringen. Im Zusammenhang mit dem Fasten haben das Beten für sich selbst und für andere sowie das Teilen in Form von Spenden eine besondere Bedeutung.
Abgrenzend zum Judentum entwickelten sich im Laufe der Zeit christliche Fastentraditionen. Jüd:innen haben montags und donnerstags gefastet, Christ:innen mittwochs und freitags. Am Mittwoch gedenken sie der Gefangennahme Jesu und am Freitag seiner Kreuzigung. Zudem gibt es im Christentum zwei längere Fastenzeiten: 40 Tage vor Ostern und 40 Tage vor Weihnachten.
Die Zahl 40 erinnert an das vierzigtägige Fasten Jesu in der Wüste, dem das vierzigtägige Fasten von Mose und Elija als Vorbild dient. Einige dieser aufgezählten Fastentage und -zeiten sind in einigen christlichen Konfessionen in den Hintergrund getreten, jedoch ist die große Fastenzeit vor Ostern in der gesamten christlichen Tradition bekannt.In dieser Zeit erinnern sich die Christ:innen an das Leiden von Jesus Christus, sein Wirken und Handeln. Bezüglich der Fastenregelungen kam es im Laufe der Zeit zu erheblichen Unterschieden in den christlichen Konfessionen.
Das Fasten in der orthodoxen Kirche wird in Nachahmung und auf Empfehlung Christi praktiziert. Fastende nehmen die Mahlzeiten in reduziertem Maß zu sich. Es gibt drei Stufen des Fastens: strenges Fasten im Sinne von streng veganem Fasten und Verzicht auf Öl und
Alkohol; beim leichten Fasten ist der Konsum von Wein, Öl und Weichtieren erlaubt, und bei der dritten Form des Fastens ist das Essen von Fisch gestattet. Neben den sieben Wochen Fasten vor Ostern gibt es weitere Fastenzeiten: Das leichte, ein bis sechs Wochen andauernde Apostel- oder Petrusfasten in Gedenken an die Apostel Petrus und Paulus nach Pfingsten; zwei Wochen strenges Gottesmutterfasten vor dem Fest Mariä Entschlafung und das vierzigtägige Fasten vor Weihnachten. Des Weiteren gibt es in der orthodoxen Kirche eintägige Fastentage wie Mittwoch und Freitag.
Die katholische Kirche kennt Ostern als eine Fastenzeit und versteht es als Zeit der Umkehr und Buße. Durch die Enthaltsamkeit sollen der Geist geschult, die Gläubigen zu bewusstem Leben angeregt und Solidarität zu Armen und Bedürftigen gezeigt werden. Nach alter kirchlicher Tradition sollen Gläubige in der gesamten Fastenzeit kein Fleisch konsumieren.
Heute befolgt man diese Regel zumeist nur noch an Freitagen in der Fastenzeit. Zudem sollen sich Gläubige maßvoll ernähren; was heute nur noch an Aschermittwoch und Karfreitag eingehalten wird. Gläubige zwischen 14 und 60 Jahren können individuell entscheiden, auf welche Genüsse (Alkohol, Rauchen, Süßigkeiten etc.) sie verzichten wollen. Sonntage gelten als fastenfrei.
Die evangelische Kirche kritisiert die katholischen Fastenregelungen. Nach Luther sind diese Einschränkungen reine Formalitäten, durch die das Wohlwollen Gottes nicht erlangt werden kann. Fasten sei eine individuelle Angelegenheit und keine allgemeine Verpflichtung für die Gemeindemitglieder. Mit dem Fasten sollen Gläubige ihre eigenen Gewohnheiten aufbrechen, um dem Heiligen Geist Raum zu geben. Das Fasten wird praktiziert z. B. durch Verzicht auf liebgewonnene Gewohnheiten wie gutes Essen, Alkohol, Fernsehen. Eine sehr
bekannte Aktion der evangelischen Kirche ist „7 Wochen ohne“.
Muslimisches Fasten
Unabhängig von den zahlreichen Weisheiten des Fastens, die den gläubigen Muslim:innen nur zum Teil bekannt sein dürften, bildet aus islamischer Sicht das direkte Gebot Gottes zum Fasten (El-Baqara 2:183) die Grundlage für diese Praxis. Das Fasten ist die dritte Säule des Islams. Dieser Gottesdienst wurde den Gläubigen in der medinensischen Zeit, und zwar zwei Jahre nach der Auswanderung aus Mekka nach Medina, auferlegt.
In der Religion des Islams wird unterschieden zwischen verpflichtenden und freiwilligen Fastenzeiten. Der Koranvers: „Der Monat Ramadan (ist es), in dem der Koran als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt wurde und als klarer Beweis der Rechtleitung und Unterscheidung (zwischen Wahrem und Falschem). Wer von euch also in dem Monat zugegen ist, der soll in ihm fasten.“ (El-Baqara, 2:185), weist auf den Befehl des Fastens im Monat Ramadan hin. Diese Verpflichtung obliegt Muslim:innen, die bei klarem Verstand und geschlechtsreif sind. Sie unterlassen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Essen, Trinken und Geschlechtsverkehr. Kranke, Schwangere, menstruierende Frauen und Reisende sind davon ausgenommen, es gilt jedoch, die Fastentage zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen (El-Baqara 2:184). Bei andauernden gesundheitlichen Gründen dürfen Kranke als Ersatzmöglichkeit für die unerledigte rituelle Pflicht des Fastens während des Ramadans täglich einen Bedürftigen mit Nahrung versorgen.
Nicht nur während des Ramadans, sondern auch zu anderen Zeiten ist das Fasten ein fester Bestandteil des religiösen Lebens. Neben den Hauptpflichten ist das freiwillige Fasten eine zusätzliche Gelegenheit, Gott näherzukommen, denn durch den Verzicht auf alles Sinnliche reinigen die Gläubigen ihre Herzen, sühnen ihre Sünden und entwickeln sich in spiritueller Hinsicht weiter, sodass sie das Wohlwollen Gottes erlangen können. Im Vergleich zu den anderen Gottesdiensten obliegt die Belohnung des Fastens allein Gott und ist deshalb der Einhaltung und der Empfehlung würdig.
In den Prophetenüberlieferungen finden sich auch Hinweise auf freiwillige Fastenzeiten: Mit dem Beginn der drei heiligen Monate (Radjab, Schaʿbān, Ramadan) bereiten sich Muslim:innen körperlich und seelisch auf den Fastenmonat Ramadan vor, indem sie in den Monaten Radjab und Schaʿbān freiwillig an einigen Tagen fasten. Im Anschluss an den Ramadan pflegte der Prophet Muhammed (F.s.m.i.) sechs Tage im Monat Schewwāl zu fasten, da nach einer Überlieferung die Belohnung für das Fasten an diesen sechs Tagen gleichzusetzen ist mit der Belohnung für ein Fasten von einem Jahr. Eine weitere Sunna des Propheten besagt, montags und donnerstags zu fasten, weil laut einer Überlieferung an diesen beiden Tagen die Taten der Menschen Gott vorgelegt werden und der Gesandte Gottes zu diesen Zeitpunkten fasten wollte. Weiterhin empfahl er in jedem Monat drei Tage, neun Tage vor dem Kurbanfest und an Aschura zu fasten. Gläubigen, die jeden Tag fasten wollten, bot er das Alle-zwei-Tage-Fasten an, das sogenannte David-Fasten.
Betül Ziya (Fontäne-Zeitschrift)