Endstation: „Tod?“ – Jenseitsvorstellung im Islam

Endstation: „Tod?“ – Jenseitsvorstellung im Islam

Bericht zur Veranstaltung am 02.05.2019

Unter dem Titel „Endstation: Tod? – Jenseitsvorstellung im Islam“ führte das Forum Dialog am 02.05.2019 die dritte Veranstaltung aus der Reihe „Islam kompakt – Muslime erzählen“ durch, in der dieses Jahr überwiegend die Glaubensgrundsätze des Islams thematisiert wurden.

Der Referent Imam Kadir Sanci studierte Islamische und Jüdisch-Christliche Religionswissenschaften und Pädagogik an der Goethe-Universität in Frankfurt. Als Imam ist er Gründungs-, Präsidiums- und Stiftungsratsmitglied der Stiftung House of One. Zudem ist Kadir Sancı akademischer Mitarbeiter am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft der Universität Potsdam.

Zu Beginn seines Vortrags unterstrich Sanci, dass Menschen eigentlich ständig mit dem Tod konfrontiert sind und dass dieses Thema die Menschheit seit Anbeginn beschäftigt. Aus islamischer Perspektive betrachtet er das Leben als Gabe Gottes und anvertrautes Gut, weshalb der Mensch nicht selber über seinen Tod entscheiden dürfe. Dabei ging Sanci auf grundlegende Prinzipien in der islamischen Normenlehre ein und verwies auf Verse aus dem Koran und Überlieferungen des Propheten. Sanci zog unter Anderem die Perspektiven zweier Gelehrten in Bezug auf den Tod heran – von Imam Ghazālī (gest. 1111) und von Bediuzzaman Said Nursi (gest. 1960).

„Jede Seele wird gewiss den Tod zu kosten bekommen“ (Sure Āl ʿImrān 3:185), leitete Sanci seinen Vortrag ein. Er verwies darauf, dass der Vers grammatikalisch begründet auch anders übersetzt werden kann: “Jede Seele ist jeden Augenblick beim Kosten des Todes.” In der arabischen Grammatik werde zwischen zwei Satzarten unterschieden: dem Verbal- und dem Nominalsatz. Nominalsätze, die keine Verben beinhalten – wie es hier der Fall ist – haben keine zeitliche Begrenzung. Sie beschreiben eine andauernde Tätigkeit. So könne man festhalten, dass der Tod und das Leben im Gleichgewicht zueinander stehen und der Tod ständig von jedem einzelnen erfahren wird. Sei es durch den Tod eines Bekannten, Verwandten oder Freundes oder durch die Vergänglichkeit in der Natur, wenn z.B. im Herbst die Blätter fallen oder Blumen verwelken – der Kontakt zum Tod besteht immer.

Der Tod ist eine biologisch bedingte Tatsache und ein selbstverständliches Ereignis, dem die Menschheit seit Anbeginn ausgesetzt ist. In diesem Zusammenhang beschäftigt sie die Frage, was danach passieren wird. Die erfahrungsbasierte Wissenschaft, die Physik, gelange an seine Grenzen, wenn die Bewegung außer Kraft tritt. Mit dem Tod eines Menschen bzw. nach der Verwesung des Körpers bleibt der modernen Naturwissenschaft kein Raum mehr für ihre Forschungen übrig, führt Sanci aus.

So wird es notwendig, seine Antworten in der Metaphysik zu suchen. Nach Kantscher Aussage ist die Metaphysik „[…] eine Wissenschaft, die über die Grenzen der Natur hinausgeht.“ So haben sich Philosophen, Theologen und Gelehrte unterschiedlicher Religionen mit diesem Thema beschäftigt. Für Religionen ist die Frage nach dem Leben nach dem Tod eine zentrale Frage. Indem der Koran zu einem Drittel die Auferstehung (al-ḥaschr) thematisiert, wird das Leben nach dem Tod neben der Einheit Gottes (at-tawḥīd), der Prophetie (an-nubuwwa), der Gerechtigkeit (al-ʿadāla) und der Gottesdienerschaft (al-ʿubūdiyya) zu einer essentiellen Frage. Nach der von dem Gelehrten asch-Schāṭibī (gest. 1338) entwickelten Theorie „Ziele der Scharia“ (hier „der islamische Weg“) (maqāṣid aš-šarʿiyya) sind die Hauptziele der islamischen Normenlehre, die fünf Güter aller Menschen zu schützen und zu erhalten. Die fünf Güter sind:  Schutz des Glaubens, des Lebens, des Vermögens, des Nachkommens und der Vernunft. 

Der Mensch darf nicht über seinen eignen Tod und den eines anderen entscheiden. Nach islamischer Auffassung ist  nur Gott befugt, über Leben und Tod zu bestimmen. Demzufolge ist selbst ein “im Namen Gottes” verübtes Selbstmordattentat keinesfalls mit dem Islam und der islamischen Normenlehre vereinbar, betont Sanci. Auf das Verbot, sich selbst das Leben zu nehmen, verweist auch die Warnung des Gesandten, der sagt, dass einem Suizid begehenden Menschen das ewige Leben im Paradies verwehrt wird. Die Aufgabe der Menschen sei somit, nicht für Gott zu sterben, sondern für Gott zu leben. Wenn auch der Tod eine göttliche Bestimmung ist, ist das Ziel des menschlichen Daseins nicht der Tod sondern das Leben. Dies bestärkte Sanci mit dem Vers aus der Sure Eḏ-Ḏāriāt 51:56, in der es heißt: „Ich habe die Djinn (Dämonen) und die Menschen nur deswegen erschaffen, damit sie Mich erkennen und (ausschließlich) Mich anbeten.“ Sich der göttlichen Prüfung zu stellen und mit dem von Gott herbeigeführten Tod diese Zeit zu besiegeln, sind die eigentlichen Herausforderungen. 

Die Frage, wann der Tod eintritt, wird in der klassischen islamischen Literatur klar beantwortet: Wenn die Seele den Körper verlässt, stirbt der Mensch. Die Kriterien jedoch, wann die Trennung zwischen Seele und Körper stattgefunden hat und wie dies festzustellen ist, sind nicht endgültig festgelegt. In der Fiqh-Literatur gibt es folgende Beschreibungen: Verlust des Bewusstseins und der Sinneswahrnehmungen, Ausfall der Atmung und des Herzschlages und Reglosigkeit der Arme und der Augen seien erste Anzeichen für den Tod. Die Abkühlung, das Vertrocknen und die Verfärbung des Körpers und Anzeichen von Verwesung seien weitere Merkmale für den Eintritt des Todes. Diese Kriterien seien jedoch einige Jahrhunderte alt und mussten ergänzt werden: Nach dem Beschluss der Islamic Fiqh Academy am 3. Juli 1986 wird der Mensch erst durch das Eintreten von Herz- und Atemstillstand oder durch einen Hirntod für tot erklärt. In beiden Fällen muss eine Wiederbelebung bzw. eine Besserung des Zustandes von ÄrztInnen ausgeschlossen werden.

Nach diesen Ausführungen ging Sanci auf die Perspektiven zweier Gelehrten ein. Al-Ġazālī (gest. 1111) beschreibt den Tod als „eine Zustandsveränderung“ und sagt, „daß die Seele nach der Trennung vom Leibe bestehen bleibt“. Al-Ġazālī geht auch auf die Schmerzen ein, die die Erinnerung an den Tod auslösen. Die Trennung von Familie und Kindern, von Bekannten, Verwandten und Freunden, von Hab und Gut sei der Grund für diese Schmerzen. Unmittelbar nach dem Tod befalle den Menschen die Sorge der Rechenschaft vor Gott über seine Taten. Dennoch werde die Erinnerung an den Tod in den islamischen Quellen gefördert. So erinnert Al-Ġazālī in seinem Werk an folgende Überlieferungen: ´Alī ibn Ebī Ṭālib, der Vetter und Schwiegersohn des Propheten Muhammed (ﷺ – Friede und Segen seien mit ihm), sagte nach einer Überlieferung, dass das Erinnern an den Tod und der Vergänglichkeit des diesseitigen Lebens zu wohltätigen Handlungen führen würde. ´Umar ibn al-Ḫaṭṭāb, der zweite Kalif in der frühislamischen Zeit, hätte die gleichen Vorstellungen, sodass er folgende Worte auf seinen Siegelring eingravieren ließ: “Der Tod ist ein hinreichender Warner, oh ´Umar.”  Mit der Begründung, dass sie an den Tod erinnern und die Herzen erweichen, empfiehlt außerdem der Prophet (ﷺ) in den Hadithen, regelmäßig Friedhöfe zu besuchen. 

In der Sufi-Tradition wird der Tod sogar als wuṣla, die Vereinigung mit dem Geliebten, verstanden. Ferner fügt al-Ġazālī hinzu: „Nachdem er dann bestattet worden ist, kehrt seine Seele zu seinem Leib zurück […].“ Demzufolge werde es ein ewiges jenseitiges Leben für die Seele und dem wieder erschaffenen Leib geben. Al-Ġazālī bedient sich dem Koran und der Sunna, der Prophetentradition, und möchte dadurch unter Beweis stellen, dass die Seele auch nach dem Tod ewig weiter existieren wird. Sehr detailliert beschreibt er die einzelnen Akte die dem Menschen nach dem Tod widerfahren werden. Von dem Posaunenstoß bis zur Beschreibung des Versammlungsplatzes und der dort Versammelten, von der Sorge, Rechenschaft abzulegen, bis zur Beschreibung des Auferstehungstages, von der Waage der Gerechtigkeit bis zur Vergeltung von Unrecht, von der Beschreibung der ṣirāt-Brücke bis zur Fürsprache des Propheten, von der Beschreibung von Himmel und Hölle bis zur Begegnung mit seinem Herren und mit dem besonderen Hinweis auf die Barmherzigkeit Gottes lässt al-Ġazālī keine relevanten Details aus, die sich im Koran und in den Hadithsammlungen wiederfinden lassen.

Said Nursi, ein Gelehrter des 20. Jahrhunderts, widmete sich unter Rücksicht auf die Bedürfnisse der MuslimInnen in der Moderne der Frage nach der Auferstehung. Nursi bezweckte in fünf Stufen die Seele (Nefs), den Verstand (ʿaql), das Gewissen (widjdān), das Herz (qalb) und den Geist (rūḥ) des/der Lesenden bzw. Zuhörenden anzusprechen. Er zieht Vergleiche aus der Ordnung und Gerechtigkeit in der Natur und erklärt auf diesem Weg die Notwendigkeit der Auferstehung. Nursi weist auf das ständige Streben und die Wiederbelebung der Pflanzen im Frühling und erklärt die Auferstehung für möglich. Dabei ziehe Nursi unter Anderem folgenden Vers heran: „Sah der Mensch denn nicht, dass wir ihn aus einem Tropfen erschaffen haben? Und schon ist er ein klarer Gegner! Ein Gleichnis prägte er für Uns, vergaß dabei doch, dass er geschaffen ist. Er sprach: „Wer kann die Gebeine lebendig machen, wenn sie schon zerfallen sind?“ Sprich: “Der macht sie lebendig, Der sie ein erstes Mal erschuf. Wissen hat Er von allem, was erschaffen ist.“ (Sure Yāsīn 36:77-79 ) Für den, der bereits aus dem Nichts erschaffen hat, werde in der Zukunft die Wiedererschaffung aus Gebeinen nicht schwer fallen. Nursi geht auch auf den Nutzen der Auferstehung für das irdische Leben ein. 

So sei die Auferstehung für Kinder, die sich naive Fragen über den Tod stellen und dementsprechend Todesängste viel intensiver spüren können als Erwachsene, eine Möglichkeit, innere Ruhe durch den Gedanken der Auferstehung und Wiedervereinigung zu empfinden und damit umgehen zu können. Die Auferstehung sei für alte, sich dem Tod nährende Menschen eine Hoffnung, für Jugendliche wiederum sei sie eine Warnung, um ethisch-moralische Grenzen nicht zu überschreiten. Nursi erklärt den Nutzen der Auferstehung für die Familie in einer ewigen Vereinigung. Dieser Gedanke werde sicherlich der Familie ein glückliches Miteinander im Diesseits bescheren, so wäre jedes Familienmitglied daran bemüht, für ein ewiges Zusammensein zu investieren und nicht für etwas Vergängliches. Die Sure al-Ḥadj 22:5-7 unterstreicht nochmals die Aussage, dass die Auferweckung stattfinden wird, so heißt es: „Ihr Menschen! Wenn ihr im Zweifel über die Auferweckung seid: Wir schufen euch aus Erde, sodann aus einem Samentropfen, sodann aus einem Klumpen, sodann aus einer Körpermasse, geformt und ungeformt, um euch Klarheit zu verschaffen. Wir lassen im Mutterleibe ruhen, was wir wollen, bis zu benannter Frist. Dann holen Wir euch hervor als Kinder, bis ihr eure Reife erreicht habt. Manch einer von euch wird abberufen, ein anderer kommt ins verächtliche Alter, damit er nichts mehr von dem weiß, was er zuvor gewusst. Du siehst die Erde in Erstarrung. Doch wenn wir Wasser auf sie niedergehen lassen, dann gerät sie in Bewegung, sie mehrt sich und lässt Pflanzen sprießen. So ist es – weil Gott die Wahrheit ist, weil Er die Toten wieder lebendig macht und weil Er die Macht zu allem hat. Und weil ‚die Stunde‘ kommen wird – an ihr besteht kein Zweifel – und Gott die auferstehen lässt, die in den Gräbern sind.“

Nach diesen Ausführungen beendete Sanci seinen Vortrag mit dem Vers: „Siehe, wir sind Gottes, und zu Ihm kehren wir zurück.“ (el-Baqara 2:156)

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