Wenn Herzen die Welt erblicken: Mevlana Rumis zeitlose Botschaften für den Frieden

Islam Kompakt, beim Forum Dialog 28.03.2018

 

1. Religion – Frieden ­­– Islam

„Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso.“ (Matthäus 7, 12; Lukas 6, 31).

„Keiner von Euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.“ (Hadith des Propheten Mohammed)

Bei diesen Eingangszitaten handelt sich um zwei fast sinngleiche Aussagen aus dem Christentum und Islam, die in ähnlichem Wortlaut auch in anderen Religionen zu finden sind: Es geht um den guten/fairen Umgang; darum, seinem Selbst keinen Vorzug im Guten zu gewähren. Das steht im letzteren Fall sogar in direktem Zusammenhang mit dem Glauben. Den Anspruch ALLEN Menschen den Frieden zu wünschen, erhebt bekanntlich jede Religion. Dazu lassen sich Auszüge aus den Quellen durchaus vervielfachen; bleiben wir beim Islam:

„Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne (daß es) einen Mord (begangen) oder auf der Erde Unheil gestiftet (hat), so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält.“ (Sure 5:32)

„Die wahren Diener des Allerbarmers sind diejenigen, die sanftmütig auf der Erde wandeln.“ (Sure 25:63)

„Ein Muslim ist derjenige, vor dessen Zunge und Hand die Menschen sicher sind.“ (Hadith)

Das sind wohl eines der bekanntesten Verse und Hadithe, die zeigen, Mord, Gewalt, Hass, Verleumdung und Erniedrigung haben im Islam keinen Patz. So ist es in der Theorie, aber ist es das auch in der Praxis? Leider nicht immer. Es gibt zahlreiche Berichte über Fundamentalisten, selbsternannte militante Gotteskrieger und Selbstmordattentäter, religiösem Mobbing an Schulen oder Antisemitismus auch in muslimischen Kreisen. Dann gibt es aber Fälle, in denen gerade Muslime selbst vielfach Ziel von Rassismus und antimuslimischer Gewalt werden, wie z.B. die zahlreichen Moscheebrände zeigen, welche zumeist weitaus weniger Beachtung in den Medien finden.

Die gefühlte Wahrheit hinsichtlich der potenziellen Gewaltbereitschaft von Muslimen/Flüchtlingen in der deutschen Gesellschaft ist, stellt man sie den tatsächlichen Gewalttaten gegenüber, sehr besorgniserregend. Markus Weinhardt stellt hingegen als Ergebnis einer empirischen Forschung heraus:

„Keine Religion kann generell als gewaltgeneigter oder gewaltanfälliger ausgemacht werden. Auch wenn gegenwärtig das Bild eines gewaltbereiten Islam die öffentliche Wahrnehmung dominiert, so sollte die einstige oder aktuelle Konflikteskalation in andersreligiösen Kontexten (…) nicht vergessen werden. Auch lassen die Fallstudien nicht den Schluss zu, dass eine Religion theologisch mehr als andere zum Frieden neigen oder beitragen würde oder dass konstruktive Konfliktbearbeitung zwischen gleichreligiösen Gegnern leichter bzw. erfolgreicher wäre als bei unterschiedlicher Religionszugehörigkeit.“

„Wie kann nun aber Religion, der Glaube, einen Beitrag zum friedlichen Miteinander leisten“, stellt sich nicht zuletzt gesellschaftlichen Akteuren die Frage. „Wie kann dabei der Islam einen Beitrag dazu leisten“, frage nicht zuletzt ich mich als Muslimin. „Ein Terrorist kann kein Muslim sein, ein Muslim kein Terrorist“, stellt ein Gelehrter unserer Zeit Fethullah Gülen unmissverständlich klar. Als Beispiel für bedeutende Gelehrte, die eine ähnliche Haltung gelebt haben und in der islamischen Philosophie und Mystik bis heute prägend sind, sollen nun Botschaften eines der einflussreichsten, im Westen wohl bekanntesten Dichters und Sufimeisters, Mevlana Celaleddin Rumi (13. Jh.), analysiert und für die Friedensarbeit fruchtbar gemacht werden.

2. Sufismus und Mevlana Rumi 

„Sufismus ist die Kunst des Gehens, als aufrichtiger Mensch, ein ganzes Leben lang. (Er) ist eine auf Ausbildung und Lehre basierende Kunst.“ (Mevlevi Postnishin Emin Işık)

Der Sufismus (tasavvuf) ist eine Lesart des Islam, eine muslimische Lebensart, die sich stärker auf die innere Dimension der Religion konzentriert. Es geht um die Arbeit am Charakter, um die Selbsterkenntnis und den inneren Reifungsprozess. Die Einhaltung religiöser Pflichten soll tiefgründiger verstanden und verinnerlicht werden. Elementar ist die Erkenntnis, dass im „Wesen“ ALLES auf der Welt auf EINEN Schöpfer hinweist. So bleibt belanglos, welches Geschlecht, welche religiöse Orientierung, Ethnie und äußere Erscheinung ein Mensch hat. Auch anderen Lebewesen gegenüber, selbst Gegenständen, soll aus Dankbarkeit zu Gott große Achtung entgegengebracht werden.

Nach sufischem Verständnis geht der Sufismus auf die Lebensweise des Propheten Muhammeds (Friede sei auf ihm) zurück. Im 12. Jahrhundert begann zunehmend die Institutionalisierung durch Gründung von Orden, dabei entstanden verschiedene Schulen. Nach der Schließung sufischer Einrichtungen/Konvente (dergah, tekke, zaviye) mit der Gründung der türkischen Republik in 1925 wurden religiösen Praktiken, die Bekleidung der Mevlevi, die sufische Gemeinschaft, die sich nach Mevlana benannte, und sufische Amtsbezeichnungen verboten. In der postkemalistischen Zeit entstanden dann vielfältige Erscheinungen des Mevlevi-Sufismus, die sich jeweils unterschiedlich auf Mevlana Rumi berufen mit teilweise konkurrierenden Ansprüchen (Kultur, Religion, Tradition, Tourismus, Heilung). Bis heute wird die rituelle Kontemplationspraktik (sema) jährlich an seinem Todestag als staatliche Gedenkzeremonie in Konya, seiner Grabstätte, praktiziert. Das Drehritual des Sema wurde im Jahr 2007 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.

Mevlana Rumi kam am 30. September 1207 in Balch, in Afganistan auf die Welt. Bereits von Haus aus genoss er eine sufische Erziehung. Aufgrund eines Disputs mit Fahreddin Razi, der bekannt war für seine Koranauslegung, verließ er Balch und ging nach Bagdad, Malatya, Erzurum und ließ sich schließlich in Konya nieder. Mevlana Rumi war ein Flüchtling.

„Ich bin nicht vom Osten, nicht vom Westen,
nicht von dieser, nicht von jener Welt.
Mein Ort: Das Ortlose,
Meine Spur, das Spurlose;
Weder Leib bin ich noch Seele,
Denn ich gehöre dem Geliebten.“

Dass er selber in einer sehr turbulenten Zeit gelebt hat, wie wir sie heute ähnlich vorfinden, macht ihn für das Thema „Frieden“ besonders interessant. Verursacht durch die Mongolen gab es innere Unruhen in Anatolien; so wusste Rumi genau, was es hieß, unter Kriegsumständen zu leben. In dieser Zeit lernte er seinen spirituellen Meister kennen, der aus Mevlana den machte, der er über Jahrhunderte geworden ist: der sog. „Sultan der göttlichen Liebe“. Während er zuvor klassische Islamlehre unterwies, begann er Gedichte zu schreiben und verkündete Botschaften, die über diese Lehre hinausgingen; er sprach vielmehr von Liebe, Toleranz und Gleichheit aller Menschen. Damit zog er nicht selten Aufsehen bei dem traditionellen Establishment. Zusätzlich wurde ihm vorgeworfen, er sei ein mongolischer Agent. Rumi sah sich gezwungen klar zu stellen:

„Solange ich lebe, bin ich Diener des Korans und Staub auf dem Weg des Muhammed. Wenn jemand etwas anderes von mir berichtet, stimmen mich seine Worte sehr traurig.“(Mevlana C. Rumi)

So sehr er von den Menschen seiner Zeit nicht „verstanden“ wurde, so viel wird Mevlana Rumi heute verehrt. Zu seinen bekanntesten Lebenswerken gehören das Mesnevi, Divan-i Kebir, und Fihi ma Fihi. Unumstritten ist er jedoch noch immer nicht.

3. Sufische Konzepte

Das Grundmotiv im Sufismus ist a) die Trennung vom Göttlichen. Das Leben ist ein Weg zu Gott, Ziel ist es, auf diesem Weg die Beschaffenheit der Vollkommenheit (insan-i kamil) zu erlangen. b) Die Einheit des Körpers, Aufhebung des Dualismus(vahdet-i vucud), c) das Herz (kalb) als Ort der Manifestation göttlicher Wahrheit und d) Liebe/Leidenschaft (aschk) als Medium der Gottesnähe gelten ebenfalls als eines der elementaren sufischen Konzepte.

a) Bevor der Mensch das Diesseits betrat, hat er die göttliche Wahrheit und das absolute Glück erfahren. Am sog. „Alastu-Tag“ hat er seinen Eid gesprochen, dass er Gott als seinen Schöpfer anerkennt. Auf der Erde befindet er sich also im Exil. Er sehnt sich nach seiner Heimat, und das bereitet ihm Schmerzen. Nichts anderes meint die Aufforderung, sich durch seine Manifestationen und u.a. über formale Gedenkpraktiken (wie zikr, sema) immer und wiederholt an die Wahrheit Gottes zu erinnern, sich eigentlich seiner Selbst bewusst zu werden. Das erinnern schafft Nähe zu Gott (türk.: kurbiyet), aus der sich eine tiefere Gotteserfahrung in jeder kleinsten Tat ergibt. Jedes Organ steht im Dienste Gottes, und jede Tat verläuft ausschließlich im Sinne Gottes. Die ersten 18 Verse im Mesnevi beginnen genau mit der Thematik der Trennung und Reifung, und zwar in der Symbolik der Herstellung der Rohrflöte. Die Trennung des Rohrs von seinem Stamm, seine Verarbeitung zu einer Flöte, aus der Musik erklingt, steht für die Reifung des Menschen unter Leid und Kummer (Schmerz, Krankheit, Notstand etc.). Nur unter dem Umstand der „Arbeit“ des Menschen an sich selbst und seiner Formung kann quasi aus ihm der göttliche Klang erklingen. Genau für diese Lebensaufgabe steht symbolisch und performativ das Sema-Ritual.

b) Alles weist auf den einen Schöpfer hin: Was wir sehen, meinen wir zu sehen, sie sind nichts als die Schatten der Wahrheit, die Manifestationen Gottes. Das Gute oder das Böse sind Trugbilder; im Erschaffen Gottes sind beide gleich, wir erfahren sie als Dichotomien. Gleichzeitig fungiert der Mensch als „kleines Universum“, sein Leib vereint die Beschaffenheit des gesamten Universums.

c) Wenn ein Mensch das ‚göttliche Licht’ be­sitzt, so erlangt er ein Herz, das Gott mit folgenden Worten preist: „Weder der Himmel noch die Erde kann mich umfassen, außer die Herzen meiner geliebten Diener.(hadisi kudsî) Das „Sehen mit dem Auge des Herzens“ im Sinne von erkennen spielt im Sufismus daher eine besondere Rolle. Das geschieht nicht mit den „Augen des Kopfes“ betonen Sufis. Es gelte durch die Arbeit an der nefs (Selbst), durch Geduld, Selbstreflektion, Reue, Dankbarkeit, Gottgefällige Taten (Dienst am Mensch und an der Umwelt) den „Spiegel des Herzens“ zu reinigen, damit es die göttliche Wahrheit makellos reflektieren kann. Nur dann wird der Mensch seiner Aufgabe gerecht, die schönste Reflexionsfläche für die Manifestation der Namen Gottes zu sein.

d) Indem ein Derwisch (jemand, der sein Leben nach sufischer Lebensweise gestaltet) allein aus seiner Liebe zu Gott heraus alle Geschöpfe mit Liebe begegnet, erfährt er Gottesnähe. Ohne die Liebe Gottes zum Propheten wäre nach sufischer Auffassung das Universum nicht erschaffen. Alles steht und fällt mit der Liebe.

Kurzum: Das Leben versteht sich im Sufismus als sog. spirituelle Reise auf dem Weg zur inneren Reifung, im Zentrum dessen steht die Arbeit am Herzen als das Medium der Herstellung von Gottesnähe schlechthin. Diese Arbeit führt zur Wahrnehmung der Einheit allen Seins und der Auflösung seiner Selbst in der Wahrheit Gottes – ein erstrebenswertes Moment im Sufismus, welches als das „Sehen“ im Sinne absoluter Erkenntnis verstanden wird. Wem es gelingt, die Welt mit dem „Auge des Herzens“ zu betrachten, dem bleibt nichts ‚fremd’ und feindselig, er hat die Station der Zufriedenheit (rıza makamı) erreicht.

4. Botschaften für den Frieden

Methodisch erklärt Mevlana Rumi seine Lehren mit Methapern, Gleichnissen und Fabeln. Im Folgenden geht es um seine konkreten Botschaften für den Frieden, die sich in vier zentrale Themenfelder einteilen lassen:

a) Liebe vs. Hass

b) Blick auf das Selbst -> Erkennen der göttlichen Prüfung durch den ‚Anderen’

c) Aufhebung von Trennung -> Herstellung von Einigung

d) Reinheit des Herzens -> Reinheit des Blicks -> guter Umgang

a) Alles was Du über den Krieg erwägst, Du solltest wissen, ich bin weit davon entfernt. Alles was Du über die Liebe erwägst, das bin ich; aus nichts als das bestehe ich. (Divan-i Kebir, Gazel II, CVIII). Wenn Du stets im Himmel sein möchtest, dann freunde Dich mit jedem an, bewahre niemandem gegenüber Hass in Deinem Herzen! Verlange nicht viel und sei nicht mehr als andere! Sei’ wie eine Kerze, nicht wie ein Dorn! Wenn Du von niemandem Schlechtes erfahren möchtest, sei keiner, der Böses spricht, Böses lehrt und böse Gedanken hegt. (Ariflerin Menkibeleri II, 213f)

b) Du bist wie Pharao, der Moses ausließ und den Neugeborenen die Köpfe abschlug. Der Feind war im Hause des Blindherzigen, und draußen schnitt er den Kindern den Hals durch. „Auch du bist schlecht zu den anderen draußen, während du der schlimmen Triebseele im Innern entgegen kommst. Sie ist Dein wirklicher Feind, aber Du gibst ihr Kandis, während Du draußen alle beschuldigst.“

Du bist wie Pharao, blind und blindherzig; Deinem Feind kommst du entgegen und die Schuldlosen behandelst Du schändlich. Wie lange, o Pharao, willst Du noch die Unschuldigen töten und Deinen schädlichen Körper verhätscheln? (Mesnevi IV, 1916-1919) Moses bist Du, auch Pharao bist Du selbst. Was immer du auch suchst, suche es bei Dir selbst. (Mesnevi III/1253) Ich habe in der Welt des Suchens und Strebens nichts Wertvolleres gefunden als einen guten Charakter. (Mesnevi II/810)

c) Oh ihr Menschen, Oh ihr Menschen! Trennt Euch nicht voneinander! Kommt nicht auf den Gedanken der Zerstrittenheit! Wenn ihr doch alle eins seid, strebt nicht nach der Zweisamkeit! (Rubai 642)

Wie lange willst Du noch das Gute und das Böse als getrennt voneinander betrachten? Blicke auf den Ausgang der Sache, im Grab werden sie ineinander übergehen. Wie lange willst Du noch sagen, dies ist so, das andere so, Und wirst versäumen auf den zu blicken, der sie so bestimmt hat. Oh diejenigen, die sich gegenseitig schief anblicken, die sich nicht leiden können! Unterlasset diese Trennung und findet eine Einigung, freundet Euch an! Schaut doch auf das Wasser, auf die Luft und die Erde! Obwohl sie wie Feinde so gegensätzlich sind, stimmen sie wie Freunde überein.

Der Wolf, das Schaf, der Löwe und die Gazelle, während all diese vier doch so unterschiedlich sind, haben sie sich aus Angst vor ihrem Dresseur versöhnt. Welch’ Erhabenheit Gottes; dank seiner Gnade, haben sich die Rose und der Dorn angefreundet. (Dina-i Kebir, Gazel, II, 2381)

Die Einigkeit der Herzen ist besser als die Einigkeit der Zungen (Sprachen).(Mesnevi, I/1207)

Ein Mensch ist nichts als ein Nichts, wenn er allein ist; er kann alleine Leid nicht überstehen. Wenn wir alle zusammen kommen, werden wir zu Menschen. (…) Los, lasst uns an den Rand des unendlichen Meeres der Einheit gelangen. Wir sollten uns dort niederlassen, eins werden, eine Einheit werden. (Divan-i Kebir, Gazel IV, 1671)

d) Quäle Deinen Freund nicht aus Egoismus, sonst wird Dein Freund Dein Gegner und Feind. Tue den Geschöpfen Deines geliebten Erschaffers (den Menschen, Tieren, Pflanzen) um Gottes willen oder für den Frieden deiner eigenen Seele Gutes und behandle sie liebevoll. Tue das, damit Du ihnen immer freundlich gegenübertrittst und keine bösen, hasserfüllten Gedanken in Dein Herz kommen, so dass es in Dunkelheit versinkt. (Mesnevi IV 1978-1980)

Dein schlechter Charakter hat sich Dir in ihm (dem Feind) gezeigt, weil er für Dich wie die Oberfläche eines Spiegels war. Ärgere Dich nicht über den Spiegel, wenn Du darin Deine Hässlichkeit siehst. (Mesnevi VI/3154)

Kommt, lasst uns zusammen kommen; Lasst uns für einen Moment unsere Körper aufheben. Uns selbst nicht beachten; ins Wasser gleiten und alle dieselbe Farbe annehmen. Sind wir nicht ohnehin alle Äste desselben Baumes und Reisende auf demselben Weg? Wenn wir uns unserer Egos befreien, finden wir zum Seelenfrieden. (Divan-i Kebir, Gazel, I, 1702)

Fazit: Betont wird stets, dass wir alle im Menschsein vereint sind. Das was uns bei dem anderen als zuwider erscheint, wirft ein Spiegel auf das, was in uns allen vorhanden ist. Der andere trägt nichts in sich, was Gott jedem einzelnen von uns nicht gegeben hat.

 

5. Frieden als Medium der Kooperation

Ganz klar: Religion birgt Konfliktpotenzial, die oftmals u.a. aufgrund eines falschen Verständnisses der religiösen Quellen herrühren, vor allem immer dann, wenn ihre innere Dimension ausgeblendet wird. Oft sind es Machtansprüche, welche die beflügelnde, medialisierende Wirkungskraft von Religion instrumentalisieren. Dabei setzt das Religiöse mediale Kräfte oder mobilisierende Energien frei, die übrigens ähnlich auch in säkularen Erscheinungen vorzufinden sind ­–­ man denke nur an Fußball oder andere große Events wie politische Bewegungen, Demonstrationen. Aber Religion birgt auch, wie in den obigen Quellen deutlich wird, Friedenspotential, die es zu erarbeiten, sichtbar zu machen und unbedingt freizulegen gilt.

Mein Vorschlag in der Friedensarbeit ist simpel, und zwar plädiere ich dafür sich der Kraft der Kooperation bewusst zu werden und stärker und hartnäckiger für den Frieden zusammen zu arbeiten. Dies stütze ich auf die o.g. Botschaften von Mevlana Rumi mit der Betonung der Einheit in der Vielfalt, gleichermaßen leite ich es vor dem Hintergrund des theoretischen Werkzeugs der „medienanthropologischen Trias“, formuliert von Erhard Schüttpelz, sowie der Theorie der „Grenzobjekte“ Leigh Stars her: Verkürzt dargestellt entsteht mit Schüttpelz Medialisierung im Zusammenwirken von Personen, Zeichen Artefakten, bei dem wiederum all diese drei Faktoren transformiert werden. Durch Kooperation wird das gemeinsame Grenzobjekt – hier wäre es das friedliche Miteinander – stabilisiert. Mit anderen Worten geht es darum, dass verschiedene Instanzen über eine Kette von Operationen das Grenzobjekt trotz unterschiedlicher Ansprüche an das Objekt (sogar ohne Konsens untereinander, vielmehr ist die Ausgerichtetheit von Bedeutung) stärken. Wenn Medialisierung so erklärt werden kann, dann müsste der Frieden (man könnte es auch durch andere Begriffe ersetzen wie Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung aller Menschen etc.) – wie abstrakt es auch klingen mag – tatsächlich durch gezielte Kooperation gelingen.

Wichtig ist zu berücksichtigen: Medialisierung funktioniert in ethischer Hinsicht auch mit negativer Auswirkung. Denken wir an die Möglichkeit, die Medientechnik für den Datenmissbrauch zu nutzen oder das Internet dazu um gewaltverherrlichende Videos zu verbreiten. Man kann einen Krieg als „Olivenzweig“ labeln und so den Tod von Zivilisten rechtfertigen oder die Verfolgung von unliebsamen Menschen als „Terrorbekämpfung“ ausgeben. Es gilt also immer darauf zu schauen, welche Zeichen, Artefakte und Personen zusammenwirken mit welcher Ausgerichtetheit.

6. Plädoyer für eine wertekonforme Kooperation für den Frieden

1-  Der Weg bestimmt maßgeblich das Ziel: Medien (Sufismus: Rituale, Konzepte) können sowohl zum Positiven als auch zum Negativen verwendet werden. Das bedeutet, dass das Netzwerk an Operationsketten, mit denen man den Frieden erreichen möchte, auch wertekonform sein muss. Mit Gewalt und technischen Apparaten wie Waffen/Panzern, mit Selbstmordattentaten, Hetze im Netz und Folter oder einer spaltenden Sprache wird sich kein Frieden realisieren lassen. Das „Wie“, die Rechtmäßigkeit, ist entscheidend für das, „was“ entstehen soll.

2- Sensibilisierung für Vielfalt statt „Differenz der Identität“

Sufische Konzepte bieten ein wichtiges religiöses Repertoire, um die Herausforderungen unserer Zeit im friedlichen Miteinander der Religionen zu stemmen. Sowohl im innermuslimischen Austausch sowie im Kontakt mit politischen und anderen religiösen Akteuren als auch in der schulischen wie außerschulischen Bildung muss sie weiter fruchtbar gemacht werden. Ziel: die Bildung von respektvollen, Vielfalt akzeptierenden Individuen, die sich zur Aufgabe machen, ein guter, wertorientierter Mensch zu sein.

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Osman Örs

Islamwissenschaftler / Theologischer Referent und Imam des House of One