Eine traurige jedoch lehrreiche sowie verbindende Geschichte, gleich zu Anfang der Menschheit. Die Erzählung von Kain und Abel (im Arabischen Qabil und Habil) und dem damit verbundenen Brudermord ist eine universale Botschaft, die sich sowohl im Koran (Sure 5, Verse 27-31) als auch in der Bibel (Gen 4,1–16) – in ähnlicher Gestalt – wiederfindet.
Die Geschichte der zwei ersten Söhne Adams (Friede sei mit ihm) verbindet Jüd:innen, Christ:innen und Muslim:innen zugleich. Die Opfergabe beider, der Hass und die Eifersucht des einen, die aufrichtige Hingabe und Güte des anderen Bruders, und zu guter Letzt der erste Tötungsdelikt der Menschheitsgeschichte, finden wir in ähnlicher und sich ergänzender Form in den heiligen Schriften der abrahamitischen Tradition wieder.
Kain und Abel – zwei Namen, die viel Symbolkraft in sich tragen. Zum einen symbolisieren sie das Wesen des Menschen, welches das Potenzial zum Guten wie auch zum Bösen in sich trägt, zum anderen moralisch-ethisches Handeln, das getragen wird von Gesetz und dem Schutz des Lebens. Im koranischen Kontext erfahren wir weder ihre Namen noch ihre Berufungen. Diese erfahren wir aus der Bibel, welche die muslimische Gelehrte seit jeher als sekundäre komplementierende Quelle der koranischen Erzählungen betrachten und für ihre Auslegung heranziehen. Aus der Bibel erfahren wir, dass Kain Ackermann und Abel Schäfer war. In der islamischen Auslegungs-Tradition finden wir hierzu folgende Ausführungen: Abel ist von gutem Charakter. Sein Vater Adam, der seinen feinfühligen, aufrichtigen und gutmütigen Geist erkennt, vertraut ihm so dann auch die Verantwortung der Tiere an. Er weiß, dass Abel mit ihnen gerecht und feinfühlig umgehen wird. Kain hingegen vertraut sein Vater den Ackerbau an, denn Adam fürchtet, dass Kain aufgrund seiner Ungeduld ansonsten irgendeinem Tier Schaden oder Unrecht zufügen könne. Mit dieser weisen Entscheidung Adams mag somit bereits auf die „verlorene Seele“ Kains hingedeutet sein, die durch die koranischen Kategorisierung min al-khasirun Ausdruck findet.
Das Drama gipfelt so dann mit der Ablehnung der Opfergabe Kains, woraufhin er so dann seinen jüngeren Bruder Abel erschlägt. Die Annahme der Opfergabe Abel’s wird in beiden Texten mit seiner Frömmigkeit begründet. Hieraus lässt sich zum einen entnehmen, dass zu einer Opfergabe, die Gott dargeboten wird, oder einer Spende, die einem Mitmenschen bzw. einem Wohltätigen Zweck dient, gehört, dass man diese Tat im Herzen in tiefem Bewusstsein vor Gott mit reiner Absicht vollbringt. Zum anderen findet solch eine Gabe erst Anerkennung, wenn man von dem gibt, was man selbst als wertvoll erachtet. Diese Grundhaltung ist ein moralischer Kompass, an den sich alle Gläubigen auszurichten haben, besonders in diesen besonderen Tagen des Monats Dhul Hidjja.
Der Koran führt im Gegensatz zur Bibel den Dialog der beiden Brüder weiter aus, indem Abel der Todesdrohung seines Bruders offenkundig entgegnet und spricht: “Wenn du deine Hand nach mir ausstreckst, um mich zu töten, so werde ich doch nicht meine Hand nach dir ausstrecken, um dich zu töten.“ Seinem tugendhaften Charakter entsprechend warnt er Kain darauf hin, dass er durch diese abscheuliche Tat die Schuld aller je begangenen Morde auf ihm lasten würden und droht ihn mit der Höllenstrafe. Dies wird weiter ausgeführt in den sinngemäßen Worten des Propheten Muhammed (Friede sei mit ihm), der sagt:
„Adams erster Sohn trägt die Blutschuld einer jeden unschuldig getöteten Menschenseele, denn er war es, der den ersten Mord beging.“
(Aus der Hadithsammlung von el-Buchari, Kapitel Dschanaiz 33)
Abels Ermahnung sollte keinen Effekt im Herzen von Kain haben. Getrieben durch seine Eifersucht, seinen Stolz und seinen nafs (die fleischliche, Böses gebietenden Seele) war Kain so verblendet, dass er letzten Endes seinen Bruder Abel ermordete und damit der universalen – koranischen wie biblischen – Botschaft des darauf folgenden Koranverses (5:32) entgegen handelte, nämlich, dass die Tötung einer Menschenseele, der Tötung der gesamten Menschheit gleichkommt.
Der Rabe, der so dann im Koran abschließend in Erscheinung tritt, in dem er für einen anderen toten Raben ein Loch in den Boden gräbt, gibt dem nun Bedauern zeigenden Kain ein Zeichen, wie er den Leichnam seines Bruders bestatten könne. Man könnte hieraus ebenso die Verbundenheit des Menschen mit der Schöpfung herauslesen. Denn der Mensch zieht in vielerlei Hinsicht Nutzen von Tieren und lernt darüber hinaus stets von ihnen. Selbst das womöglich älteste menschliche Ritual geht damit auf die Lehre eines Rabens zurück. Dies sei auch uns heute eine bedeutsame Botschaft und ermahnt uns womöglich auf die Wertschätzung und Achtung der Natur und Schöpfung.