Sufismus als Weg und Wissen: Eine Einführung in die islamisch-mystische Tradition

Bericht zur Veranstaltung am 25.09.2019

Am 25.09.2019 fand die Einführungsveranstaltung der für das Jahr 2020 geplanten Reihe „Islam kompakt – Porträts der Liebe“ statt, in der sufische Persönlichkeiten, die die spirituelle Dimension des Islams geprägt haben, vorgestellt werden.Die Veranstaltung fand im Forum Dialog in Berlin statt.

Der Referent Dr. Raid Al-Daghistani (geb. 1983 in Ljubljana, Slowenien) studierte Philosophie in Ljubljana und Freiburg sowie Arabistik und Islamwissenschaft in Sarajevo und Münster. Er promovierte über die islamische Mystik und ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) an der Universität Münster tätig. Bisher veröffentlichte er drei Monografien (Abū Ḥāmid al-Ghazālī. Erkenntnislehre und Lebensweg (Freiburg i.Br, 2014), Falsafa. Einführung in die klassische arabisch-islamische Philosophie (Freiburg i.Br., 2016) und Epistemologie des Herzens: Erkenntnisaspekte der islamischen Mystik (Köln, 2017), sowie mehrere wissenschaftliche Artikel in deutscher, englischer und slowenischer Sprache.

Dr. Al-Daghistani ging in seinem Vortrag auf die historische Entwicklung, den Zusammenhang des Weges und des Wissens und die Kerninhalte des Sufismus ein. 

Mystik im Islam wurde, genauso wie in anderen religiösen Traditionen, zuerst gelebt. Die Vielfältigkeit der islamischen Mystik (Sufismus) gründet auf der Vielfalt mystischer Erfahrungen. Der Sufismus (taṣawwuf) als islamische Mystik ist jedoch seiner klassischen Auffassung nach nicht nur eine spirituelle Lebensweise, sondern zugleich auch eine religiöse Disziplin, die über diese Lebensweise reflektiert, so Al-Daghistani. Damit weist der Sufismus auf eine doppelte Grundbestimmung hin, die man schlicht in den Begriffen „Weg“ (ṭarīqa) und „Wissen“ bzw. „Wissenschaft“ (ʿilm) zusammenfassen kann.

Der Weg des Sufismus ist ein „spiritueller Weg“, der aus zahlreichen inneren „Stationen“ (maqāmāt) und geistigen „Zuständen“ (aḥwāl) besteht und zu der spirituell-ethischen Vervollkommnung des Menschen führt (iḥsān). Jede Station besteht in gottesdienstlichen Handlungen, geistlichen Bemühungen, asketischen Übungen und der Konzentration auf Gott, fasst Al-Daghistani zusammen. Ein Zustand (ḥāl) ist dagegen eine „Anwandlung“, die auf das Herz hernieder kommt, ohne zu dauern. Doch da es zahllose Etappen des geistigen Aufstiegs gebe, könne sie nur derjenige erkennen, der diesen spirituellen Weg auch selbst gegangen ist. Diesbezüglich meint der große Sufi-Meister al-Quschayrī, dass der Weg zur göttlichen Wirklichkeit unendlich ist: „Der Mensch lebt unaufhörlich im Aufstieg seiner Stationen und Zustände“.

Die islamische Mystik als ʿilm al-taṣawwuf, „die Wissenschaft des Sufismus“, ist vor diesem Hintergrund eine ganzheitliche Wissenschaft von den geistigen Zuständen und inneren Stationen. So fasst auch Abū Naṣr as-Sarrādj – der Autor des ersten systematischen Werkes über Sufismus – den Sufismus als eine spirituelle Wissenschaft, ja, als die „Wissenschaft des Inneren“ (ʿilm al-bāṭin) auf. Es ist eine Wissenschaft, die im Unterschied zu anderen Wissenschaften keine Grenzen hat. Denn sie befasst sich mit den „inneren Handlungen“ des spirituellen Weges. Die inneren Handlungen seien gleichsam die Handlungen des Herzens, führt der Referent aus und zählt diese inneren Handlungen auf: der Glaube, die Reue, die Gewissheit, die Ehrlichkeit, die Aufrichtigkeit, die Geduld, das Gedenken, die Achtsamkeit, die Ehrfurcht, die Sehnsucht, die Ekstase, die Verherrlichung, die Überwältigung, die Erkenntnis, die Liebe usw.

Doch die inneren Handlungen seien mit den äußeren Taten verbunden. Die Einheit von vita contemplativa und vita activa (zwischen ʿilm und ʿamal) stellt einen weiteren Wesensaspekt des Sufismus dar, der grundsätzlich als eine Synthese des kontemplativen und des aktiven Lebens im Islam verstanden werden kann. Die Vervollkommnung der Seele, wonach die muslimischen Mystiker letztendlich streben, ist ohne diese zwei Komponenten – Wissen und Handlung bzw. Erkenntnis und Läuterung bzw. Erfahrung und Übung – nicht möglich. Als Weg ist der Sufismus grundsätzlich Läuterung (taṣfīya) und Erkenntnis (maʿrifa); als Wissen bzw. Wissenschaft ist er eine intellektuelle Betrachtung und Erwägung über die Eigenschaften, Inhalte, Techniken, Phasen und Charakteristiken dieses Läuterung- und Erkenntnisweges. „Die Wissenschaft des Sufismus“ (ʿilm al-taṣawwuf) ist somit eine ganzheitliche Wissenschaft von den geistigen Zuständen und mystischen Stationen. Und nur als Weg und Wissen zusammen ist der Sufismus auch Weisheit (ḥikma), ja – eine Geistigkeit, die grundsätzlich ethisch ist, und eine Ethik, die grundsätzlich geistig ist.

Doch der „wahre Mensch“ (al-ʾinsān al-ḥaqīqī) zu sein, heißt im Sufismus Mitmensch zu sein. Taṣawwuf bedeutet somit auch die Verwirklichung des Menschenseins. In dem Sinne meinte al-Ğunayd: „Sufismus ist guter Charakter. Derjenige, der seinen Charakter verbessert, verbessert auch seinen Sufismus.“

Die „Wissenschaft des Sufismus“ (ʿilm al-taṣawwuf), in deren Mittelpunkt die Erforschung der spirituellen Entwicklung des Menschen und die damit zusammenhängende Möglichkeit seiner Selbst- und Gotteserkenntnis stehen, trägt in sich das Potenzial einer grundlegenden Reformierung des religiösen Lebens, das weit über den rein akademischen Rahmen hinausreicht. Durch die ganzheitliche religiös-spirituelle Ausbildung des Menschen kann die sufische Wissenschaft zu einer Wiederbelebung der authentischen, d. h. grundsätzlich bewusstseinsethischen Religiosität beitragen.

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