Frömmigkeit im Koran

“1. Alif. Lām. Mīm.
2. Dies ist das [am meisten verehrte, unvergleichliche] Buch, an dem es keinen Zweifel gibt. [Es ist] eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen, Frommen, die ihre Pflicht Gott gegenüber erfüllen.
3. Die an das Verborgene glauben, das Gebet zur vorgegebenen Zeit und in Übereinstimmung mit seinen Vorschriften verrichten und von dem spenden, was Wir ihnen gegeben haben.
4. Und die an das glauben, was vor dir offenbart wurde, und die vom Jenseits überzeugt sind.
5. Sie [jene Vorzüglichen] sind es, die von ihrem Herrn [auf der Grundlage des Korans] rechtgeleitet sind, und sie sind es, denen es wohl ergehen wird.” (al-Baqara 2:1-5)

 

بِسْــمِ الله الرَّحْمنِ الرَّحِيم
الم ﴿١﴾
ذَلِكَ الْكِتَابُ لاَ رَيْبَ فِيهِ هُدًى لِّلْمُتَّقِينَ ﴿٢﴾
الَّذِينَ يُؤْمِنُونَ بِالْغَيْبِ وَيُقِيمُونَ الصَّلاةَ وَمِمَّا رَزَقْنَاهُمْ يُنفِقُونَ ﴿٣﴾
والَّذِينَ يُؤْمِنُونَ بِمَا أُنزِلَ إِلَيْكَ وَمَا أُنزِلَ مِن قَبْلِكَ وَبِالآخِرَةِ هُمْ يُوقِنُونَ ﴿٤﴾
أُوْلَئِكَ عَلَى هُدًى مِّن رَّبِّهِمْ وَأُوْلَئِكَ هُمُ الْمُفْلِحُونَ ﴿٥﴾

(el-Baqara 2:1-5)

قَالَ اللَّهُ :أيها النّاسُ
إن رَبَّكُمْ وَاحِدٌ، وإنّ أَبَاكُمْ واحِدٌ،
كُلكُّمْ لآدمَ وآدمُ من تُراب،
إن أَكرمكُمْ عندَ اللهِ أتْقَاكُمْ
وليس لعربيّ فَضْلٌ على عجميّ إلاّ بالتّقْوىَ

(aus der Abschiedspredigt des Gesandten Gottes)

 

Meine sehr verehrten Geschwister,

an 285 Stellen im Koran kommt in verschiedenen Formen der Begriff taqwā – die Frömmigkeit – vor. Die Mufessirūn haben diesen Begriff als “Ehrfurcht vor Allah” ausgelegt. Und diese Ehrfurcht verstehen sie als Gottesbewusstsein bzw. Verantwortungsbewusstsein vor Allah. Dies erfordert ein gottgefälliges Leben; ein Leben, in dem Verbote respektiert und Gebote eingehalten werden; ein Leben, in dem diese Entscheidung bewusst und reflektierend umgesetzt wird; ein Leben, in dem der Dienst an Allah die wichtigste Aufgabe ist. In der eröffnenden Sure, die el-Fatiha, lernen wir unseren Schöpfer kennen. Mit unserem Kennenlernen sind wir zugleich überwältigt und lobpreisen Ihn. Schließlich verprechen wir Allahu teʿālā unsere Treue und wenden uns in unseren Gebeten an Ihn. Wir bitten Allah um hidāya, um Rechtleitung. Gleich in den ersten fünf Versen der Sure el-Baqara erhalten wir die Antwort auf unsere Bitte um hidāya:

1. Alif. Lām. Mīm.
2. Dies ist das [am meisten verehrte, unvergleichliche] Buch, an dem es keinen
Zweifel gibt. [Es ist] eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen, Frommen, die ihre
Pflicht Gott gegenüber erfüllen.
3. Die an das Verborgene glauben, das Gebet zur vorgegebenen Zeit und in
Übereinstimmung mit seinen Vorschriften verrichten und von dem spenden, was
Wir ihnen gegeben haben.
4. Und die an das glauben, was vor dir offenbart wurde, und die vom Jenseits
überzeugt sind.
5. Sie [jene Vorzüglichen] sind es, die von ihrem Herrn [auf der Grundlage des
Korans] rechtgeleitet sind, und sie sind es, denen es wohl ergehen wird.

Dem Koran ist zu entnehmen, dass unser Verlangen nach Rechtleitung die Frömmigkeit bedarf; eine Frömmigkeit, die den Glauben und das Handeln danach umfasst. Aber wie, auf welchem Weg erlangt man Frömmigkeit? Hierzu gibt es unterschiedliche Antworten.

Verehrte Muslime,
in meiner Hutbe soll es aber um die Frömmigkeitsbeschreibung von Üstad Bediüzzaman gehen – der große Meister den unser Hocaefendi als den ehrenwerten Pir bezeichnet. Mit 35 Jahren hielt er 1911 in Damaskus eine Hutbe, die später ins Osmanische übersetzt und veröffentlicht wurde. Folgende Worte entnehmen wir aus dieser Predigt:

“Vicdanın anasır-ı erbaası ve ruhun dört havassı olan irade, zihin, his, latife-i
Rabbaniye, herbirinin bir gayat-ül gayatı var: İradenin ibadetullahtır. Zihnin
marifetullahtır. Hissin muhabbetullahtır. Latifenin müşahedetullahtır. Takva
denilen ibadet-i kâmile, dördünü tazammun eder. Şeriat şunları hem tenmiye,
hem tehzib, hem bu gayat-ül gayata sevkeder.”

 

Das Willensvermögen (irade), das Arbeitsgedächtnis bzw. die Auffassungsgabe (zihin), das Wahrnehmungsvermögen (his) und das göttliche Feinheitsvermögen (latife-i Rabbaniye), welche die vier Mechanismen bzw. Elemente des Gewissens (vicdan) und die vier Besonderheiten des Geistes (ruh) sind, haben jeweils einen übergeordneten Zweck: Das Willensvermögen ist für den Dienst an Gott, für die Anbetung Allahs (ibadetullah), das Arbeitsgedächtnis bzw. die Auffassungsgabe ist für Gotteserkenntnis (marifetullah), das Wahrnehmungsvermögen ist für die Liebe zu Gott (muhabbetullah) und das Feinheitsvermögen ist für die Schau bzw. Bewunderung Gottes (müşahedetullah). Die als Frömmigkeit (taqwā) bezeichnete vollkommene Form des Gebets umfasst diese vier [Mechanismen]. Die Scharia wiederum bringt diese zum Gedeihen, läutert sie und führt sie zu ihrem jeweiligen übergeordneten Daseinszweck.

So sind irade, zihin, his und latife-i Rabbaniye wie die Zahnräder einer mechanischen Uhr und können sich nur gemeinsam in Bewegung setzen. Nur gemeinsam können sie unser Gewissen und unseren Geist gesund halten. Genau diese Zusammenarbeit nennt der ehrenwerte Pir als die Frömmigkeit. Die Einhaltung von göttlichen Normen dient wiederum zur Pflege dieses Mechanismus. So können auch die drei Bereiche unserer Religion, die in dem berühmten Jibril-Hadith erwähnt und erläutert werden, verstanden werden:

islām steht für die handlungsorientierte Religiosität und ist mit irade in Verbindung zu setzen, īmān steht für den Glauben und ist mit zihin in Verbindung zu setzen und iḥsān steht für die Feinheit des Islams und ist mit his in Verbindung zu setzen. Alle drei zusammen setzen auch latife-i Rabbaniye in Bewegung, eine Zentrale im Herzen, die die direkte Verbindung zu seinem Schöpfer darstellt.

Auch im Alltag kann uns Üstad Bediüzzamans Worte helfen:
irade benötigt Bewegung; sie benötigt Aktivismus. Demzufolge fordert unser Willensvermögen uns auf, einen Dienst an Gott zu leisten. Jedoch braucht Gott unsere Dienste nicht. So haben wir stellvertretend hierzu einen Dienst an die Menschen, an die Menschheit zu leisten; wir haben die Pflicht Hizmet zu leisten, uns in Hizmet zu engagieren. zihin verlangt nach Wissen und bedarf ständig etwas neues zu lernen, zu reflektieren und mitzugestalten. Demzufolge fordert unsere Auffassungsgabe nach Bildung und Intellektualität. Welchen Beruf wir auch ausüben, wir dürfen niemals aufhören zu lernen und unser Dasein als ein Student auf Leben zu verstehen. his fordert nach Erfahrungen. Das Wissen ist da, um es umzusetzen. So wird auch das Zusammenspiel von irade und zihin erkennbar. Aber welchen Wert hat das Wissen und wie kann es gesund umgesetzt werden, wenn wir in unseren Lernprozess unsere Wahrnehmungen nicht einbeziehen, wenn wir das Wissen unreflektiert stehen lassen?

Diese drei Mechanismen werden unser Herz aufgehen lassen und die latife, unsere Kommunikationszentrale mit Gott, empfänglicher machen, sodass wir auch mit dem Herzen denken und entscheiden lernen. Erst dann werden wir zu wahrhaften Menschen und können unseren Mitmenschen gegenüber Barmherzigkeit zeigen.

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Imam Kadir Sancı